Eines der Feynman-Diagramme, die zur Präzisionsrechnung der Higgs-Paarproduktion beitragen (Bild: S. Jones/MPP)

Higgs-Boson: Neue Präzisionsrechnung für Paarproduktion

Mit verschiedenen Experimenten überprüfen Forscher das derzeit gültige Standardmodell der Elementarteilchenphysik. Außerdem suchen sie nach Phänomenen, die sich jenseits des Standardmodells abspielen – nach "neuer Physik". Grundlage dafür sind theoretische Modelle, die vorgeben, wonach die experimentellen Physiker Ausschau halten müssen. Eine Gruppe am Max-Planck-Institut für Physik (MPP) hat eine Berechnung vorgestellt, die einen besonderen Aspekt des Higgs-Bosons präzise beschreibt. Die Arbeit ist im Fachjournal Physical Review Letters als "Highlight" erschienen.

Die Entdeckung des Higgs-Bosons 2012 war der Anfang einer neuen und sehr spannenden Phase in der Elementarteilchenphysik. Das Higgs-Boson spielt eine wichtige Rolle in unserem Verständnis der fundamentalen Wechselwirkung zwischen den bisher bekannten Elementarteilchen.

Durch den sogenannten Higgs-Mechanismus erhalten die W- und Z-Bosonen – verantwortlich für schwache Kraft – ihre Masse. Auch die Fermionen, also Leptonen (Beispiel: Elektronen) und Quarks werden durch Wechselwirkung mit dem Higgs massiv. Das Top Quark, das schwerste der bisher bekannten Elementarteilchen, bekommt im Standardmodell seine Masse ebenfalls durch Wechselwirkung mit dem Higgs-Boson.

Gibt es eine Higgs-Higgs-Wechselwirkung?

Zudem nimmt man an, dass das Higgs-Boson auch mit sich selbst wechselwirkt. Es ist sehr wichtig, diese Annahme experimentell zu bestätigen. Nur dann funktioniert das Standardmodell so, wie wir es momentan als gültig betrachten. Um diese "Selbstkopplung'' messen zu können, müssen in den aktuellen Kollisionsexperimenten im Large Hadron Collider (LHC) mindestens zwei Higgs-Bosonen entstehen.

Allerdings lassen sich solche Ereignisse nur selten beobachten. Die Hoffnungen ruhen daher auf der modernisierten High-Luminosity-Version des LHC, die ab etwa 2025 in Betrieb gehen soll. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erwarten, dass dann genügend Higgs-Paare produziert werden, um mehr über die Higgs-Selbstkopplung zu erfahren.

Experimente leben von exakten Vorhersagen

Dabei wären Abweichungen vom theoretisch vorhergesagten Wert ein spektakulärer Hinweis auf "neue Physik" – also ein Hinweis, dass das Standardmodell  erweitert werden muss. Um solche Hinweise zu finden, müssen die theoretischen Vorhersagen innerhalb des Standardmodells äußerst präzise sein: Nur wenn der erwartete Wert exakt bestimmt wurde, lassen sich aus den experimentellen Daten fundierte Schlüsse ziehen.

Gudrun Heinrich, Co-Autorin der aktuellen Publikation, nennt einen einfachen Vergleich: "Wer in der Eisdiele Himbeereis bestellt und Erdbeereis bekommt, kann nur dann dem Eisverkäufer sagen, dass dieser etwas verwechselt hat, wenn er genau weiß, wie Himbeereis schmeckt."

Präzise Berechnung statt Näherungen

In der Phänomenologie-Gruppe am MPP wurde nun eine Präzisionsrechnung fertiggestellt, die es erlaubt, Higgs-Paarproduktion genauer zu beschreiben. Dazu mussten sogenannte 2-Schleifen-Integrale, die neben masselosen Gluonen sowohl massive Higgs-Bosonen als auch massive Top Quarks enthalten, berechnet werden (siehe Bild).

Die Berechnung solcher Feynman-Diagramme ist mathematisch sehr komplex: Bisher waren daher nur verschiedene Näherungen bekannt. Mit fortgeschrittenen numerischen Methoden, wie sie die Phänomenologie-Gruppe des MPP entwickelt hat, war es möglich, die bislang präziseste Rechnung zur Higgs-Paarproduktion zu veröffentlichen.

"Ob daraus irgendwann ein Hinweis auf 'neue Physik' erwächst, können wir zum aktuellen Zeitpunkt nicht abschätzen", sagt Gudrun Heinrich. "Aber wir haben jetzt eine ausgezeichnete theoretische Basis für spätere experimentelle Messungen."

Die Präzisionsrechnungen wurden am Hochleistungsrechner “Hydra" des Rechenzentrums Garching der Max-Planck Gesellschaft (Max Planck Computing & Data Facility) durchgeführt.

 

Publikation:

Higgs boson pair production in gluon fusion at NLO with full top-quark mass dependence; S. Borowka, N. Greiner, G. Heinrich, S.P. Jones, M. Kerner, J. Schlenk, U. Schubert, T.; Phys. Rev. Lett. 117, 012001 (2016), https://arxiv.org/abs/1604.06447

Kontakt:

Dr. Gudrun Heinrich
Max-Planck-Institut für Physik
+49 89 32354-284